Der Körper braucht Vitamine


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Vitaminabhängigkeit

 Andrew W. Saul

(Leitartikel aus dem Journal of Orthomolecular Medicine, 2004. Band 19 No. 2, S. 67-70. Genehmigter Nachdruck.)

"Der Mensch ist ein von Nahrung abhängiges Wesen. Wenn man ihm nichts zu essen gibt, stirbt er. Gibt man ihm unzureichende Nahrung, stirbt ein Teil von ihm." (Dr. med. Emanuel Cheraskin)


Abhängigkeit gehört zum Leben. Der menschliche Körper ist abghängig von Nahrung, Wasser, Schlaf und Sauerstoff. Zudem sind seine Stoffwechselvorgänge völlig abhängig von Vitaminen. Ohne eine angemessene Zufuhr von Vitaminen wird der Körper krank; buchstäblich jeder länger anhaltende Vitaminmangel führt zum Tode. Das ist sicher eine Abhängigkeit im allgemein akzeptierten Wortsinn.

Lange anhaltender Nährstoffmangel kann zu einem übersteigerten Bedürfnis nach dem fehlenden Nährstoff führen, das dann nicht mehr durch die Nahrung oder selbst durch niedrig dosierte Nahrungsergänzung befriedigt wird. Kürzlich gebrauchte Dr. Robert P. Heaney (1) für solche Krankheiten den Begriff "Mangelerkrankungen mit hoher Latenzzeit". Er schreibt:

"Die unzureichende Aufnahme zahlreicher Nährstoffe wird inzwischen als Mitverursacher mehrerer verbreiteter chronischer Krankheiten in den Industrienationen anerkannt. Da diese Erkrankungen sich oft erst nach etlichen Jahren zeigen, sollte man sie als Mangelerkrankungen mit hoher Latenzzeit ansehen. ... Die unzureichende Zufuhr spezieller Nährstoffe kann zu mehr als einer Krankheit führen, kann Krankheiten auf verschiedenen Wegen hervorrufen, und es kann mehrere Jahre dauern, bis die daraus folgende Sterblichkeit deutlich genug wird, so dass sie klinisch als "Krankheit" zu erkennen ist. Da zur Prävention der Leiden mit hoher Latenzzeit größere Mengen an Nährstoffen benötigt werden als für die Prävention der entsprechenden klassischen Krankheiten, sind die Empfehlungen für die Prävention dieser Krankheiten physiologisch nicht mehr haltbar." 

Hier sind mindestens zwei wichtige Hauptgedanken enthalten:

Der erste ist: "Die unzureichende Zufuhr spezieller Nährstoffe kann zu mehr als einer Krankheit führen." Das stimmt genau mit den Feststellungen von Dr. William Kaufman vor 55 Jahren überein, der schrieb: "Betrachtet man verschiedene Krankheitsbilder, so kann man nicht auschließen, dass sie von derselben Ursache ausgelöst werden, die auf unterschiedlichen Wegen wirksam wird. Bei Tierversuchen hat sich zum Beispiel gezeigt, dass der Mangel eines einzigen essenziellen Nährstoffs bei verschiedenen Individuen derselben Art mehrere verschiedene Krankheitsbilder verursachen kann. ... Man kommt vielleicht gar nicht darauf, dass ein- und dieselbe Ursache, nämlich der Mangel an einem speziellen wichtigen Nährstoff, für alle die verschiedenen klinischen Syndrome derselben Mangelerscheinung des Gewebes verantwortlich ist, die sich bei den einzelnen Individuen derselben Art verschieden schnell entwickeln" (2). 

Zwar handelt es sich bei Amyotropher Lateralsklerose, Progredienter Muskelatrophie, Progredientem Bulbärsyndrom und Primärer Lateralsklerose nicht um ein- und dieselbe Krankheit, doch gemeinsam mit anderen neuromuskulären Erkrankungen könnten sie denselben Ursprung haben: nicht erkannte, unbehandelte lang andauernde Vitaminabhängigkeit. Sie alle könnten auf eine orthomolekulare Behandlung ansprechen, wie sie Dr. Frederick R. Klenner bei Multipler Sklerose und Myasthenia gravis vor einem halben Jahrhundert erfolgreich eingesetzt hat (3).

Der zweite wichtige Grundgedanke Dr. Heaneys ist, dass "zur Prävention der Leiden mit hoher Latenzzeit größere Mengen an Nährstoffen benötigt werden als für die Prävention der entsprechenden klassischen Krankheiten." Das bestätigt die Beobachtungen von Dr. Abram Hoffer vor über 40 Jahren, als er Kriegsgefangene mit schweren, lang anhaltenden Nährstoffmängeln behandelte.

Dr. Hoffer schrieb, dass nach der Entlassung aus bis zu 44 Monate dauernder Gefangenschaft "nur 75 Prozent überlebten. Sie hatten etwa ein Drittel ihres Gewichts verloren. In der Kriegsgefangenschaft litten sie unter klassischem Skorbut, Beriberi, Pellagra, zahlreichen Infektionen sowie an Eiweiß- und Kalorienmangel. Zur Rehabilitation gab man ihnen im Krankenhaus Vitamine in einer Dosierung, die damals als hoch galt. Danach litten diese Hongkong-Veteranen an diversen physischen und psychischen Erkrankungen" (4). Jedoch "sah es ganz anders aus bei einer kleinen Gruppe von etwa 12 Personen, denn sie nahmen jeden Tag 3 g Nikotinsäure (Niacin) ein. Diese zwölf wurden gesund und blieben es auch, so lange sie diese Vitamindosis regelmäßig einnahmen."

Hoffer weiter: "Ungefähr vor 35 Jahren (in den 1930ern und 1940ern) wurde berichtet, dass einige Patienten mit chronischer Pellagra mehr als 600 mg Vitamin B 3 brauchten, damit die Pellagrasymptome nicht wiederkehrten. Das war erstaunlich und unerwartet, denn die  Nikotinsäuremangelkrankeit Pellagra hätte bereits bei geringer Vitamindosierung zurückgehen sollen. Inzwischen hat man das Konzept der Vitaminabhängigkeitserkrankung ausgearbeitet. Es beruht auf der Einsicht, dass der Nährstoffbedarf erheblich höher ist, als man damals annahm."

"Ein Mensch wird als vitaminabhängig bezeichnet, wenn sein Bedarf an dem Vitamin den der durchschnittlichen Bevölkerung erheblich (hundertfach oder mehr) übersteigt. Die optimale Menge ist diejenige, bei der die Person dauerhaft gesund ist, nicht die Menge, die sie gerade eben frei von Pellagra macht. Aus dieser Sicht sind die Hongkong-Veteranen wegen ihrer schweren und anhaltenden Mangelernährung Vitamin-B 3-abhängig geworden. Es ist wahrscheinlich, dass jede Gruppe, die einige wichtige Nährstoffe über einen langen Zeitraum nicht bekommt, eine oder mehrere der Abhängigkeitsbedingungen ausbildet."

Vor 30 Jahren traf Dr. Hoffer in einem anderen Fachaufsatz diese Feststellung (5):

"Mit dem neuen Konzept der Vitaminabhängigkeitserkrankung verschiebt sich die Blickrichtung weg von der bloßen Beeinflussung der Ernährung hin zur Beachtung der endogenen Bedürfnisse des Organismus. Das Konzept gehört in den Bereich der orthomolekularen Krankheit. ... Die Grenze zwischen Vitaminmangel und Vitaminabhängigkeit ist nur quantitativer Art, wenn man Prävention und Heilung im Auge hat" (S. 251).

Was zwischen Mangel und Abhängigkeit unterscheidet, ist die Dosierung. Jeder Patient, dem einmal durch eine Therapie mit hoch dosierten Nährstoffen geholfen wurde, ist ein Beleg für das Konzept der Vitaminabhängigkeit. Genauso sind auch die Symptome, die sich einstellen, wenn man die Einnahme von hoch dosierten Nährstoffen abrupt und unsachgemäß absetzt, gleichermaßen ein guter Beleg für eine Vitaminabhängigkeit. Setzt man niedrig dosierte Mengen Vitamin C ab, ruft das Skorbut hervor, doch das plötzliche Absetzen dauerhaft hoher Dosierungen kann ganz andere Probleme nach sich ziehen. Dazu gehört der normale Skorbut (als "Boomerang-Effekt" bezeichnet), aber auch die vorhersagbaren Rückfälle in Krankheiten, die bereits auf die Hochdosis-Therapie angesprochen hatten.

Zu dem Thema schribt Dr. Robert F. Cathcart:

"Es gibt eine bestimmte Abhängigkeit von Ascorbinsäure, die ein Patient erwirbt, der über lange Zeit hoch dosierte Mengen davon einnimmt (als Erhaltungsdosis). Offenbar begünstigen große Mengen Ascorbinsäure bestimmte Stoffwechselreaktionen, und wenn die Substanz plötzlich abgesetzt wird, kommt es zu Problemen, zum Beispiel zu Erkältungen, dem Wiederauftreten von Allergien, Schwächezuständen usw. Meist sind das Probleme, die der Patient hatte, bevor er die Ascorbinsäure einnahm. Die Patienten haben sich inzwischen so an das Gefühl gewöhnt, dass es ihnen besser geht, dass sie sich weigern, die Ascorbinsäure wegzulassen. Anscheinend wird diese Abhängigkeit nicht erworben, wenn jemand lediglich in der kurzen Zeit einer akuten Erkrankung so hohe Dosen einnimmt, dass es Verdauungsprobleme gibt. Mengen von 4 g täglich über längere Zeit führen offenbar nicht zu einer wahrnehmbaren Abhängigkeit. Patienten, die täglich mehr als 10-15 g Ascorbinsäure nehmen, haben wohl einen Bedarf an Vitamin C, der den allgemeinen Wert beim Menschen übersteigt. Oft sind es Patienten mit chronischen Allergien, die eine hohe Erhaltungsdosis brauchen.

Das größte Problem, vor dem sich Patienten fürchten, die diese hohen Erhaltungsdosen an Ascorbinsäure benötigen, ist, dass sie einmal in eine Lage kommen könnten, in der ihrem Körper die Ascorbinsäure entzogen wird, weil sie beipielsweise als Notfall in einem Krankenhaus landen. Ein Arzt sollte die Folgen kennen, die ein plötzlicher Ascorbinsäure-Entzug in einem solchen Fall hat, und er sollte darauf eingestellt sein, den erhöhten Bedarf an Ascorbinsäure selbst bei einem bewusstlosen Patienten zu decken. Die Folgen eines akuten Ascorbinsäuremangels, zu denen Schock, Herzinfarkt, Phlebitis, Lungenentzündung, allergische Reaktionen, erhöhte Infektanfälligkeit und andere gehören können, lassen sich nur durch Gaben von Ascorbinsäure abwenden. Patienten, die hohe Dosierungen oral nicht vertragen, sollten Ascorbinsäure intravenös erhalten. Größere Mengen Ascorbinsäure für intravenöse Behandlungen sollten in jedem Krankenhaus bereitstehen" (6).

Von ganz besonderer Bedeutung ist dieser Bedarf bei Krebspatienten, deren außergewöhnlich positive Reaktion auf die Megadosis-Therapie (und die dramatisch negative Reaktion auf Ascorbinsäure-Entzug) geradezu einen Modellfall für Vitaminabhängigkeit darstellt. Darüber schrieb Dr. Ewan Cameron, ein Kollege von Linus Pauling:

"Ascorbinsäure wird bei jeder Darreichungsform schnell über den Urin ausgeschieden, so dass man die Substanz kontinuierlich oder in sehr kurzen Abständen verabreichen sollte. Darüber hinaus führt ein hoher  Ascorbinsäurespiegel im Blut zu einer erhöhten Aktivität bestimmter Leberenzyme, die diese Substanz abbauen und weiterverwenden. Nach dem plötzlichen Absetzen der hohen Dosen bleiben diese Enzyme für eine Weile aktiv und führen zum völligen Abbau der verbliebenen Mengen an Ascorbinsäure, bis sogar deutlich weniger davon im Blut ist als bei Menschen, die überhaupt keine Ascorbinsäure zusätzlich aufnehmen. Dies ist als Boomerang-Effekt bekannt. Er ruft eine drastische Senkung der Immunkompetenz hervor und muss bei Krebspatienten unbedingt vermieden werden. Die besten Ergebnisse zeigten sich, wenn Vitamin C intravenös verabreicht wird und auf diese Weise hohe Serumkonzentrationen erhalten bleiben. Allerdings sind kontinierliche intravenöse Gaben auf lange Sicht wenig praktikabel, so dass wir dazu raten, mit einer zehntägigen intravenösen Gabe zu beginnen und daran anschließend mit regelmäßiger oraler Aufnahme fortzufahren" (7).

Kurz gesagt: Dem Körper fehlt, was er braucht. Das ist Abhängigkeit.

Welche zerstörerischen Folgen die Abhängigkeit von Alkohol und Drogen haben kann, wird heute schon in der Grundschule gelehrt. Weitgehend unbeachtet bleiben die Folgen, die es hat, wenn man unsere positive Abhängigkeit von Nährstoffen ignoriert, und das selbst in medizinischen Fachzeitschriften. Vitaminabhängigkeit, die durch unsere Gene, unsere Nahrung, Medikamente oder Krankheiten verursacht wird, gilt meist als medizinische Kuriosität. Die Entdeckung von Hoffer und Osmond, dass Schizophrene, etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, abhängig sind von Niacin in der Größenordnung von mehreren Gramm, gilt in der Psychiatrie weiterhin als ketzerisch. Das Konzept einer allgemein verbreiteten genetischen Hypoascorbemie (nach Irwin Stone und Linus Pauling) fand nur negative Publizität, wenn überhaupt eine. Dennoch, so schreibt Dr. Emanuel Cheraskin, "ist Hypovitaminose C ein sehr reales und verbreitetes, wahrscheinlich epidemisches Problem, das eindeutig nicht angemessen bewertet und über das ganz sicher nicht angemessen berichtet wird" (8).

So ganz überraschend kommt das nicht. Es brauchte Jahrzehnte, bis die Medizin anerkannte, dass Biotin und Vitamin E unabdingbar für die Gesundheit sind.

Die Lieblingstheorie der Ernährungswissenschaftler, wonach Mikronährstoffmangel in einer einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehung zu bestimmten Krankheiten führt, reicht eben nicht immer aus, um die ständig wiederkehrenden Berichte von Ärzten zu erklären, die mit Megadosis-Therapien Krankheiten geheilt haben, die abseits der allgemein bekannten liegen. Vielleicht ist es ein Gesetz der orthomolekularen Therapie, dass ein einzelner Nährstoff so viele verschiedene Krankheiten heilt, weil der Mangel an einem einzelnen Nährstoff auch so viele verschiedene Krankheiten hervorrufen kann.

Wenn es bei Nährstoffmangel um ungenügende Zufuhr geht, dann geht es bei Abhängigkeit im wesentlichen um einen erhöhten Bedarf. So wie ein trockener Schwamm mehr Milch aufsaugt, so nimmt ein kranker Körper gewöhnlich auch höhere Mengen an Vitaminen auf. Die Menge eines Nahrungsergänzungsmittels, die eine Krankheit heilt, zeigt den Grad des Mangels beim Patienten an. Wir haben es darum nicht mit einer Megadosis des Vitamins, sondern mit einem Megamangel an dem Nährstoff zu tun. Ärzte, die orthomolekular arbeiten, wissen, dass man in der Ernährungstherapie nicht die Menge nimmt, die man für richtig hält, sondern so viel, dass man die gewünschten Ergebnisse bekommt. Wenn man eine Mauer bauen will, braucht man als allererstes genug Ziegelsteine. Ein kranker Körper hat einen übergroßen Bedarf an zahlreichen Vitaminen. Entweder wir decken diesen Bedarf, oder der Körper leidet unnötig.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Medizin den orthomolekularen Ansatz allgemein unterstützt, könnte man sagen, „Medizin“ sei „das experimentelle Studium, herauszufinden, was passiert, wenn man einem mangelernährten menschlichen Körper giftige Chemikalien zuführt“.


Quellen:

1. Heaney RP: Long-latency deficiency disease: insights from calcium and vitamin D. Am J Clin Nutr. 2003; Nov; 78(5):912-9.

2. Kaufman W: The common form of joint dysfunction: Its incidence and treatment. Brattleboro, VT: E. L. Hildreth and Co. 1949; Chapter 5. http://www.doctoryourself.com/kaufman10.html .

3. Smith L: Vitamin C as a Fundamental Medicine: Abstracts of Dr. Frederick R. Klenner, M.D.'s Published and Unpublished Work. Tacoma, WA: Life Sciences Press. 1988. Renamed in 1991: Clinical Guide to the Use of Vitamin C: The Clinical Experiences of Frederick R. Klenner, M.D.

4. Hoffer A: Editorial. J. Orthomolecular Psychiatry. 1974; Vol 3, No 1, p. 34-36.

5. Hoffer A: Mechanism of Action of Nicotinic Acid and Nicotinamide in the Treatment of Schizophrenia. In: Hawkins D and Pauling L: Orthomolecular Psychiatry: Treatment of Schizophrenia. San Francisco: W.H. Freeman. 1973; p. 202-262.

6. Cathcart RF: Vitamin C, titration to bowel tolerance, anascorbemia, and acute induced scurvy." Medical Hypothesis. 1981; 7:1359-1376.

7. Cameron E: Protocol for the use of vitamin C in the treatment of cancer. Medical Hypotheses. 1991; 36:190-194. Also: Cameron E: Protocol for the use of intravenous vitamin C in the treatment of cancer. Palo Alto, California: Linus Pauling Institute of Science and Medicine. Undated, c.1986.

8. Cheraskin E: Vitamin C and fatigue. J. Orthomolecular Medicine, 9:1, p 39-45, First Quarter, 1994.

 

Deutsch von Helmut Lasarcyk 2013

Andrew Saul ist der Autor der Bücher FIRE YOUR DOCTOR! How to be Independently Healthy (Kritiken von Lesern finden Sie hier: http://www.doctoryourself.com/review.html ) und DOCTOR YOURSELF: Natural Healing that Works. (Kritiken finden Sie hier: http://www.doctoryourself.com/saulbooks.html )

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Andrew W. Saul

 


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